Sie werden uns fehlen
Für einen Moment fühlt es sich immer so an, als hätte man etwas geschafft, etwas erledigt. Haken dran! Dabei wusste ich vor zwei Tagen noch nicht einmal, dass zu einer neuen Schule auch ein neuer Schulranzen gehört. Der dann nicht mehr „Ranzen“, sondern „Rucksack“ heißt und bestenfalls von dieser Marke ist, von der ich früher sicher gedacht hätte, sie würde Skatewear, nicht Schulbedarf, verkaufen. Meine Customer Journey war wie aus dem Lehrbuch. Empfehlung durch eine Freundin. Kurze Internetrecherche und Vorauswahl. Das Kind entscheidet sich für das teuerste und nur noch selten verfügbare Modell. Suche nach dem besten Preis und ... klick! Gekauft.
Es macht mir so viel Spaß, dieses Auswählen. Meine größte Schwäche ist mir inzwischen ein bisschen peinlich: die Kataloge des „Club des Créateurs de Beauté“ – in Folie verpackt, außen hochglänzend, innen voller Verlockungen. Das Budget war klein, was es umso bedeutender erschienen ließ, die richtige Wahl zu treffen. Ich sehe die Produkte noch heute vor mir. Den grün-rosé changierenden Lidschatten. Das Cremerouge, rot wie ein Liebesapfel – auch für die Wangen geeignet. Das wärmende Shampoo und die kühlende Spülung, die ihre Wirkung nur gemeinsam entfalten, Stichwort: Sauna-Effekt. Daneben die sanft lächelnden Gesichter der Créateure in schwarz-weiß. agnès b., Jean-Marc Maniatis. Ob es sie jemals gab und ob sie heute noch leben?
Den „Club“ (unbedingt französisch auszusprechen!) gibt es jedenfalls schon lange nicht mehr. Er wurde von einem Konzern geschluckt, und ich kann mich noch genau erinnern, an welcher Stelle ich in welcher Wohnung stand, als ich den Brief aus Frankreich las. Ich ahnte sofort, wie es enden und dass man mir einen meiner schönsten Zeitvertreibe rauben würde. Da hatte ich noch keine Ahnung davon, dass weitaus Gravierendes passieren kann, wenn ein Unternehmen das andere kauft – und dass genau das mein Leben mindestens zweimal einschneidend prägen würde. Im Guten wie im Schlechten.
Es dauerte tatsächlich nicht lange, dann wurde der „Club“ eingestellt. Heute kommen keine Prospekte mehr. Heute starren wir auf unsere kleinen mobilen Endgeräte. „Sale! Sale! Sale!“, schreit es uns an. Im Postfach: Newsletter, die uns nichts Neues erzählen, sondern den direkten Kaufimpuls setzen wollen. Einmal bei einem 10%-Gutschein zugegriffen, schon wird man ungefragt und viel zu oft daran erinnert, dass dieses oder jenes doch auch noch eine gute Idee sein könnte. Bikinis im November, zum Beispiel, oder Schals, von denen ich nur zu gut weiß, wie höllisch sie kratzen.
Mails ploppen auf, als seien sie kleine Arbeitsaufträge. „40% RABATT: Noch können Sie sparen ⏰“ „Sichere dir extra Rabatte mit dem Glücksrad!“ „Nur noch bis morgen 20% RABATT auf alles ✨“ Natürlich sind wir so schlau, sie in den allermeisten Fällen in den Papierkorb zu befördern. Aber da haben wir unsere Hirne schon mit Markennamen und Betreffzeilen gefüttert und uns bewusst gegen das Weiterlesen entschieden. Uns vielleicht sogar aus einer echten Aufgabe oder einem echten Gespräch herausreißen lassen. Und manchmal ist eben doch unser Interesse geweckt. Wir denken, wir machen ein gutes Geschäft, und vergessen, dass wir uns mit jedem Ding, das bei uns einzieht, neue Arbeit ins Haus holen. Alles muss ausgepackt, aufgebaut, gewaschen, gefaltet, einsortiert, repariert, sonstwie in Schuss gehalten oder zumindest eines Tages weiterverschenkt oder entsorgt werden.
Der Sisyphos unserer Zeit ist ständig damit beschäftigt, etwas wegzuklicken und zu ignorieren, damit er nicht untergeht. Ich habe gehört, dass an einem Tag so viele Neuigkeiten auf uns einprasseln wie bei einem Menschen im Mittelalter in seinem gesamten Leben. Keine Ahnung, ob das so stimmt und ob damit nur echte News oder auch die der Unternehmen gemeint sind, die uns an die Geldbörse wollen. In jedem Fall ist bei beidem die Grenze des Erträglichen längst überschritten. Ich nutze den Black Friday, um bei jeder Werbemail, die in mein Postfach gespült wird, nach dem Abmelde-Button zu suchen – meist winzig klein, unten in einem Fließtext versteckt. Dutzende Male lese ich, dass man mich sehr vermissen wird. Wie verrückt es wäre, wenn das stimmen würde.