Gioia di vivere

Das Wasser erscheint mir echter als in Wirklichkeit. Rau und gleichzeitig vollkommen klar. Lichttupfer auf der gekräuselten Oberfläche. Auf dem Meeresboden liegen große, rundgeschliffene Steine. Kein Zweifel, dass das Mittelmeer zu sehen ist, aber ich muss sofort an die Küste im Süden Norwegens denken, wo wir uns im Sommer im kühlen Wasser treiben ließen. Ganz nah am Strand eine Flunder! Das große Kind erkundete schnorchelnd den Tangwald, während das kleine das Ufer mit einem riesigen Unterwasserglas untersuchte. Am meisten staune ich darüber, dass hier, in dieser kleinen Stadt, überhaupt ein so kunstvolles Gemälde in einem Schaufenster steht – und dass es eine Galerie gibt, die mir ehrlich gesagt noch nie aufgefallen ist. Eine Galerie, die bald schließen wird.

Als ich das nächste Mal an dem Schaufenster vorbeikomme, ist ein anderes Werk auf der Staffelei – vom selben Künstler, und wieder ist das Meer zu sehen, aber mir fehlt der Zauber. Ich versuche, einen Blick in den Innenraum zu erhaschen. Eine freundliche Frau mit lustigen dunklen Locken öffnet die Glastür, und ich höre mich nach dem Bild fragen. Das Original ist gerade unterwegs, erfahre ich. Es wird zur Probe an eine Wand gehalten. Ich stelle mir eine freistehende Villa vor, voller hoher und blanker Wände, vielleicht in Wiesbaden-Sonnenberg, und einen Typen, der nicht weiß, wohin mit seinem Geld. Ob ich auch an den Drucken interessiert sei? Nein, auf keinen Fall. Die Farbe ist erdnussbutterdick aufgetragen, wie bei Van Gogh. Ein gewagter Vergleich, aber es ist ja auch keine fünf Minuten her, dass ich meinen ersten Schritt in die Kunstwelt gemacht habe.

Am Samstag ist das Gemälde zurück in der Galerie. Krass, dass B die Idee gar nicht mal abwegig findet. Noch krasser, dass er meine Begeisterung sofort teilt, als wir zusammen vor Riflessi stehen, das jetzt ganz unwürdig auf dem blanken Fußboden an die Wand gelehnt ist. Wir hatten uns vorgenommen, auf keinen Fall etwas zu überstürzen, uns erst noch einmal zu beratschlagen und eine Nacht darüber zu schlafen. Aber diesen guten Vorsatz werfen wir über den Haufen. Es gibt einfach keinen Zweifel daran, dass dieses Bild zu uns gehört, als sei es schon immer unseres gewesen. Vorsichtig tragen wir es durch die Innenstadt, vorbei an den grauen Herren von der blauen Partei, die ich auf dem Hinweg durchdringend angeschaut habe – mit meinem blonden Mädchen an der Hand.

Wenn ich jetzt auf dem Sofa sitze, kann ich das Bild betrachten. Kann mir vorstellen, das weiche Wasser mit den Fingerspitzen zu berühren. Kann davon träumen, wieder ganz unbeschwerte Tage am Meer zu verbringen, ob in Norwegen, Griechenland oder anderswo. Eigentlich wollten wir an dieser Wand einen Fernseher anbringen – wie viel langweiliger das gewesen wäre. Bei Instagram finde ich den Künstler und schreibe ihm, voller Euphorie. Er antwortet auf Italienisch. Möge das Gemälde uns serenità und gioia di vivere schenken: Gelassenheit und Lebensfreude. Ich denke: Das wird es, und das tut es bereits.

Everything is changing, aber ich bin unerschütterlich davon überzeugt, dass sich alles fügen wird. Vielen liegt das Weltgeschehen so schwer im Magen, dass sie sich kaum noch vorstellen können, dass es anders, aber besser werden könnte. Dabei ist das gar nicht ausgeschlossen. Vielleicht fahre ich bald jeden Tag mit der Straßenbahn zu einem Coworking-Space. Und vielleicht wird das richtig gut.

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