Wie wir uns von Social Media austricksen lassen

Filmkritik „The Social Dilemma“.

Ich muss mir also einen Account bei Netflix zulegen, um „The Social Dilemma“ sehen zu können? Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Schließlich geht es in den folgenden 94 Minuten um US-amerikanische Internetgiganten und die Gefahren, die von ihnen ausgehen. Einige sehen in dem Film deshalb auch einen Teil des Problems. Andere verstehen ihn als Dystopie, die gnadenlos übertreibt. Für mich ist „The Social Dilemma“ ein Film, der trotz seiner Schwächen nachwirkt – und tatsächlich dazu führen kann, dass wir unsere Gewohnheiten ändern.

Im Mittelpunkt stehen Menschen wie Tim Kendall: ein lässiger Typ, der nicht so aussieht, als könne ihn irgendetwas bekümmern. Doch aus seinem spitzbubenhaften Gesicht ist jegliches Lächeln gewichen, als er erzählt, wie schwer es ihm fällt, das Smartphone beiseite zu legen, um sich seinen Kindern zu widmen. Warum ihn das so schockiert? Weil er die Techniken, die uns an die Bildschirme fesseln, so gut kennt wie sonst kaum jemand: Kendall war Vorstandsvorsitzender von Pinterest. Zuvor war er bei Facebook für die Monetarisierung zuständig. Er tritt in eine Falle, die er selbst gestellt hat. Sagt er.

Wahre Worte?

In „The Social Dilemma“ schildern Insiderinnen und Insider aus dem Silicon Valley, warum sie Social Media, aber auch Google für gefährlich halten. Ihre Worte sollen klar im Fokus stehen. Mensch, Stuhl, Kamera – viel mehr braucht es nicht. Dieser Eindruck wird gezielt vermittelt und signalisiert: Was hier gesagt wird, ist wahr. Die Aussagen sind geschickt arrangiert. Zunächst wird scheinbar Harmloses thematisiert, wie der viel zu häufige Griff zum Smartphone. Von Minute zu Minute wird jedoch immer deutlicher: Hier geht es um nicht weniger als eine existentielle Bedrohung. Die Informationsflut des Films ist immens. Willkommene Abwechslung bietet eine fiktionale Parallelhandlung, die allerdings mit ihren überzeichneten Charakteren und der einfallslosen Handlung merkwürdig antiquiert wirkt.

Der Rohstoff: unsere Aufmerksamkeit

„Wenn du für das Produkt nicht bezahlst, bist du das Produkt.“ Solche zentralen Statements werden als Text eingeblendet. Uns wird erklärt:

  • Der Rohstoff, den Facebook & Co. an ihre Werbekundschaft verkaufen, ist unsere Aufmerksamkeit. Sie wollen das Wertvollste, das wir haben: unsere Zeit.
  • Ihr Ziel ist, dass wir ihre Plattform besuchen, möglichst lange online bleiben, Freunde einladen, Werbung konsumieren, von ihr beeinflusst werden.
  • Das erreichen sie mit Algorithmen, die immer bessere Vorhersagen darüber treffen, was wir als nächstes tun.
  • Hierzu werden sämtliche unserer Online-Aktivitäten beobachtet und gemessen – nicht nur Daten, die wir aktiv preisgeben, sondern zum Beispiel auch, wie lange wir uns welches Bild ansehen.

Sie wussten, was sie tun

Im Stanford-Lab für Persuasive Technology sollen viele der Schlüsselfiguren des Silicon Valley psychologische Überzeugungstechniken erlernt haben. Zum Beispiel die intermettierende positive Verstärkung: Du weißt nicht, ob und wann du belohnt wirst. Wie ein Spielautomat hält das Smartphone in den allermeisten Fällen nichts Aufregendes bereit – manchmal aber eben doch, und dein Gehirn belohnt dich mit Dopamin. So wird Sucht erzeugt. Internet-Unternehmer Sean Parker zeigt sich fassungslos angesichts der eigenen Skrupellosigkeit:

„Man nutzt eine Schwachstelle in der menschlichen Psychologie aus. (…)
Wir waren uns dessen bewusst. Und wir taten es trotzdem.“

Der Film entwickelt einen Sog. Wir werden abwechselnd auf der Fakten- und auf der Gefühlsebene angesprochen. So werden Depressionen und Angststörungen von Kindern, ja sogar ihre gestiegene Selbstmordrate in den USA auf die Abhängigkeit von der Bestätigung in Social Media zurückgeführt. Die Beweislage bleibt dünn. Dafür sehen wir in der fiktionalen Parallelhandlung, wie sich ein junges Mädchen mit großen Kulleraugen tieftraurig im Spiegel betrachtet. Das ist der Sache wenig dienlich.

Unser Gehirn kann nicht Schritt halten

Können wir nicht einfach lernen, mit Social Media richtig umzugehen, wie bei früheren Medienwechseln auch? Ein Trugschluss, sagen die Expertinnen und Experten: Wir haben es hier mit einer Technologie zu tun, die exponentiell wächst. In den vergangenen Jahrzehnten ist die Rechenkapazität um das Billionenfache gestiegen, während sich das Gehirn der Menschen kein bisschen verändert hat. Der Algorithmus weiß alles über uns, während wir unsererseits nicht viel mehr über ihn wissen, als dass er uns Katzenvideos zeigt – das bringt der langjährige Technologie-Investor Roger McNamee wunderbar auf den Punkt und stellt fest:

„Das ist ein unfairer Kampf.“

Dass wir dabei sind, diesen Kampf zu verlieren, daran lässt der Film keinen Zweifel. Personalisierte Newsfeeds sorgen dafür, dass wir nur noch das sehen, was unserem eigenen Weltbild entspricht – und zusätzlich einiges, von dem der Algorithmus glaubt, dass es unser Interesse wecken könnte. Wer sich hauptsächlich in Social Media informiert, lebt in einer eigenen Truman-Show und setzt sich manipulativen Narrativen aus. Es ist weniger eine Dystopie als eine Beschreibung des Status quo, wenn erklärt wird: Social Media untergraben unser gemeinsames Verständnis von der Realität, das für ein funktionierendes Zusammenleben unabdingbar ist. Die weltweit zu beobachtende Polarisierung erscheint nicht als Nebenwirkung von Social Media, sondern als logische Konsequenz des Strebens, immer längere Bildschirmzeiten zu erzielen.

Viele der Interviewten sehen eine existentielle Bedrohung – und kaum einen Ausweg. Sie fordern eine strengere Regulation, die Besteuerung der Sammlung und Verarbeitung von Daten, eine menschlichere Gestaltung der Produkte. Das Fazit: Alles muss sich ändern.

Sollte man sich „The Social Dilemma“ ansehen?

Ja, unbedingt! Viel Neues gibt es nicht, aber gerade das ist ja das Erstaunliche: dass wir dies alles zu wissen glauben, in der Realität aber doch auf Facebook & Co. hereinfallen. Es hätte dem Film gutgetan, wenn er selbst weniger auf Manipulation und mehr auf Transparenz gesetzt hätte. So verschweigt er zum Beispiel, dass der eingangs erwähnte Tim Kendall eine eigene Agenda verfolgt, wenn er von seiner Handysucht berichtet: Er vertreibt heute eine App zur Reduktion der Bildschirmzeit.

Das macht die Aussagen des Films nicht weniger wahr. Ich jedenfalls habe Konsequenzen gezogen. Facebook werde ich so schnell nicht mehr öffnen. Und ja, auch Netflix wird in Zukunft auf mich verzichten müssen.